ELIZABETH SCHROEDER – PALPATION

Die Radikalität dieser Plastiken ist nichts für zarte Gemüter. Hier drängt etwas aus dem tiefsten Innern nach außen, etwas will und muss sich formen und wird nicht zurückgehalten. Rücksichtslos gegen geltende Konventionen kann die tastende Hervorbringung von etwas so elementar Körperlichem nur der eigenen Intuition folgen. Daraus entwickelt sich eine Bildsprache, die irritiert. Es wird etwas gezielt angestrebt, doch alles ist mehr Ahnung als Konzept. Man könnte vielleicht sogar von der Notwendigkeit eines teilweisen Kontrollverlusts sprechen, um diese inneren Bilder aufzuspüren. Was sich dabei herauslöst, ist verstörend in seiner Drastik, dabei von beeindruckender Kraft. Dieser Mut zur schonungslosen Introspektion folgt dem Drang nach Wahrheit und lässt in deren Licht die dabei freiwerdenden Schöpfungen in ihrer Schönheit erkennen.

Die Entstehungsgeschichte dieser schillernden Körper beginnt mit einer Zäsur. Elizabeth Schroeder hat sich lange mit der Linie beschäftigt. Die Erkundung des Raumes durch die bewegte Linie wurde von ihr über das Trägermedium Papier mit stringenter Konsequenz verfolgt. Aus der Bildhauerin wurde eine Zeichnerin, die sich über viele Jahre der linearen Auskundschaftung des Raumes widmete, bis sie an einen für sie schlüssigen Endpunkt gelangt war. Von hier aus hat sie sich völlig neu erfunden. Auf der Suche nach der spezifischen eigenen künstlerischen Substanz war der Rückgriff auf möglichst einfache und gleichzeitig wenig vorbelastete Mittel naheliegend. Wachs und Pinienzapfen erfüllen diese Grundvoraussetzungen. Dabei ist das Wachs ein klassischer Werkstoff der plastischen Modellierung, während es eher ungewöhnlich ist, die konstruktiven Eigenschaften des Pinienzapfens zum Aufbau einer Form zu nutzen: Tatsächlich eignen sich die Zapfen auf ideale Weise dazu, ineinandergesteckt große organische Körper von einiger Stabilität zu bilden.

Die Vertrautheit mit diesen Materialien ist den frühen Erfahrungen einer Kindheit in Chile geschuldet: Die wie in einem Brennglas fokussierte Erinnerung an ein bestimmtes Pinienwäldchen an der Küste Chiles, das stumme Flackern der Kerzen im Gottesdienst und die verführerische Form- und Wandelbarkeit von Wachs. Der spielerische Umgang mit Pinienzapfen und Wachs hat hier seinen Ursprung. Der Griff zu diesen Materialien folgt keinem kunstimmanenten Diskurs, sondern dem unmittelbaren Reiz, den sie durch ihre Verbindung mit persönlichen Erlebnissen auslösen. Damit untrennbar verbunden sind die sinnlichen und haptischen Aspekte des Modellierens: Etwas mit und unter den eigenen Händen entstehen lassen. Die Gegensätzlichkeit zwischen der Widerspenstigkeit der schuppigen Pinienzapfen und dem sich Anschmiegenden des warmen Wachses spüren. Harzige, verholzte Fruchtstände versus Weichheit, Glanz, Transparenz und einer unbegrenzten Farbpalette. Ausgestattet mit diesem Gepäck, erfolgt die Reise zu einem der spannendsten und entlegensten Weltgegenden: das eigene Unbewusste. Was sie zutage fördert, sind komplexe Manifestationen von Körperlichkeit mit all seinen widersprüchlichen Konnotationen.

Elizabeth Schroeder baut mithilfe der Pinienzapfen einen Korpus, den sie mit Wachs umhüllt. Dabei übernimmt die Intuition die Führung der Hand. Der Aufbau vollzieht sich langsam. Immer wieder werden Änderungen vorgenommen, etwas bereits Entstandenes wird wieder abgetragen, an anderer Stelle angesetzt. Die Form wächst analog dem Prinzip des natürlichen Wachstums. Aus einem einzigen Pinienzapfen, der Urzelle, bilden sich in der Anhäufung die schwellenden Formen vielteiliger Zapfenkonglomerate, die in allen Richtungen weiterwuchern können. Die Anfänge nach dem Neubeginn 2014 führen zu einer eher formlos-amöbenhaften und indifferent rosafarbenen Leiblichkeit, die sich allerdings schon bemerkenswert massig und raumeinnehmend präsentiert. Die Wachsschicht zieht sich spröde und brüchig über den Körper, so dass die löchrige Pinienzapfenstruktur immer wieder das wächserne „Fleisch“ durchbricht. Mit ihrer aufgerissenen Oberfläche suggeriert diese erste ausgearbeitete Plastik Verfall und einen Zustand der Auflösung, der nichtsdestotrotz mit schonungsloser Selbstverständlichkeit zelebriert wird.

Das darauffolgende Werk gibt sich immer viel komplexer. Das hat einerseits viel mit der Farbigkeit zu tun, denn ab jetzt wird das Farbpigment sehr gezielt zur Steigerung des emotionalen Ausdrucks eingesetzt. In allen Farben schillernde Transparenzen wecken ganz andere, wenn auch nicht weniger ungute Assoziationen als die daraus aufbrechenden schwarzgefärbten, gekröseartigen Wucherungen, die deutlich an verbrannte Materie erinnern. Dieses Vermögen der Farbe, starke inhaltliche Aufladungen in die Arbeit hereinzuholen, wird immer weiter forciert und mit einer für eine Bildhauerin verblüffend meisterlichen Beherrschung ausgereizt.

Aber auch die Form gibt sich zunehmend differenzierter, ohne je ins pure Abbildende abzurutschen. Ihre Komplexität lässt sich erst in der Umrundung und genauen Erkundung der vielgestaltigen unterschiedlichen Ansichten ermessen: Je nach Betrachtungsposition stellen sich ganz andere und teilweise widersprüchliche Assoziationen ein. Aus der einen Perspektive fühlt man sich an Stein erinnert, dieser mutiert beim Umrunden in eine Schädelkalotte, wieder aus einer anderen Perspektive löst sich die harte Konsistenz auf und verwandelt sich in ein weiches, blutendes Organ. Diese Wandlungsfähigkeit verbunden mit den auf einer Skala zwischen faszinierender Anziehung und abstoßendem Ekel wild wechselnden Empfindungen tragen zu der hochgradig irritierenden, den Gegenstand immer wieder neu befragenden Ambivalenz des Gesamteindrucks bei.

Elizabeth Schroeder beherrscht die bildhauerischen Mittel perfekt. Letzten Endes geht es immer um den Umgang mit Statik und Dynamik, um beispielsweise den Eindruck von lastender Schwere, praller Fülle oder schwabbelnder Elastizität zu erzeugen. Ebenso viel Sorgfalt verwendet sie auf die Modulierung der Details und die farbige Pigmentierung der Oberflächen, so dass der Eindruck einer realitätsgetreuen Nachbildung entsteht. Aber was ist es, das hier nachgebildet wird? Tatsächlich sind es keine Abdrücke von etwas, sondern frei entwickelte Plastiken auf der Basis unterschwellig aktiver Bilder, die jedem von uns vertraut sind. In ihrer Allgemeingültigkeit öffnen sie einen großen Raum, den wir mit den eigenen Vorstellungen füllen.

Mit fortschreitender Differenzierung scheinen sich die Arbeiten immer stärker in Richtung imaginärer lebendiger Organismen zu entwickeln. Es gibt Öffnungen, Einkerbungen, starke Ausbuchtungen und tiefe Einschnitte; schließlich schnüren sich einzelne Ausformungen zu eigenständigen Körpern ab, die nur noch punktuell zu zusammenhängenden Gebilden verbunden sind. Und auch deren Oberflächen entwickeln sich auseinander und kreieren eine große Vielfalt an Strukturen, Farbigkeiten und haptischen Differenzierungen von rau bis glatt und hochglänzend. Diese malerisch hoch aufgeladenen Oberflächen mit ihren verführerischen Transparenzen haben an dem frappierenden Eindruck von Vitalität und vibrierender Spannung einen hohen Anteil. Teilweise glüht die Farbe regelrecht von innen heraus, als ob sich hier wirkliches Leben zeigte.

Einen starken Kontrast zu den massigen Körpern in ihrer extremen Verdichtung bilden die Gestelle und Podeste, auf denen sie lagern. Diese improvisiert und temporär wirkenden, oft erstaunlich grazilen Untergestelle gehen eine symbiotische Beziehung zu den Plastiken ein. Sie fangen deren Schwere auf und positionieren sie als mobile Körper im Raum. Daher sind sie weniger dienende Sockel, sondern Teil der Arbeiten. In der subtilen Ausbalancierung zwischen den lastenden Massen und den stützenden und tragenden Auflagen machen sich die jahrelangen Erfahrungen der Künstlerin mit der linearen Raumeroberung geltend. Die Geometrie von horizontaler Auflage und vertikaler Stütze folgt völlig anderen Gesetzmäßigkeiten als die auf ihnen lagernden Organismen. Sie lenken deren faktisches wie bildliches Gewicht um in Energieströme, die in den Raum fließen.

Den hochspannenden Entwicklungsprozess der Wachsarbeiten hat Elizabeth Schroeder in einem Konvolut von eigenständigen Zeichnungen mit Buntstift auf Papier begleitet. Hier lassen sich gelegentlich isolierte Untersuchungen aus dem plastischen Formenrepertoire entdecken, aber auch darüber hinaus gehende, konkretere Figurationen. Eine Folge von monochromen Blättern in „Deep Red“ scheint wiederum an der Technik des Aufbauens und Schichtens orientiert, die bei den Plastiken angewandt wird, nur dass hier der Stift den Bildaufbau bestimmt. Das Streichen mit dem Stift über das Papier zeigt seine Verwandtschaft mit dem Verstreichen des Wachses. Mit der ihr eigenen Sensibilität für das Material spricht Elizabeth Schroeder auch von Streicheln, lateinisch palpare, von dem sich der Begriff der Palpation ableitet. Als Palpation bezeichnet man in der Medizin die Untersuchung des Körpers mit einem oder mehreren Fingern sowie mit der Handfläche durch Betasten, das heißt durch Benutzung verschiedener Qualitäten des Tastsinns. Bei Elizabeth Schroeder fördert diese Untersuchung Bilder zutage, die neue und verstörende Einblicke gewähren.

SABINE ELSA MÜLLER